Wang Hailin, geboren 1988 in Ningbo, China, ist eine hoch angesehene Landschaftsmalerin.

Landschaftsmalerei zählt neben der Historien-, Porträt-, Stilleben- und Genremalerei zu den fünf klassischen Gattungen der neuzeitlichen westlichen Malerei. Aus der Antike sind Landschaftsmalereien vor allem im Medium der Wandmalerei überliefert. Im Mittelalter wird der illusionäre landschaftliche Tiefenraum entdeckt. Im 18. Jahrhundert avanciert das Erhabene neben dem Schönen zur zentralen Kategorie. Im 19. Jahrhundert setzt sich in der Malerei der subjektive Blick auf die Natur durch. William Turner, John Constable und die Impressionisten verstehen die Landschaftsmalerei als wissenschaftlich-experimentelle Erforschung übernatürlicher Natur- und Wahrnehmungsprozesse. Die Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts gehen in die Abstraktion. In Gerhard Richters Werk, in dem seit 1963 Landschaften entstehen und lange Zeit dominieren, erscheinen sie und die Abstraktion nicht als Gegensätze, sondern als verwandte Konzepte von Wirklichkeitsaneignung.

In den Landschaften der 1988 in Ningbo, China geborenen Hailin Wang wird die in China hoch angesehene Landschaftsmalerei mit der europäischen Tradition zusammengedacht. Wang hat von 2007 bis 2011 an der Kunstakademie Sichuan in China und von 2012 bis 2017 an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe Malerei studiert und 2017 und 2018 als Meisterschülerin von Marijke van Warmerdam abgeschlossen. Wie schon in Werken der Dynastie der Tang-Kaiser in China (617/18 bis 907) zählt bei Wang mehr die Stimmung und die Atmosphäre als die naturgetreue Darstellung und die exakte Nachbildung. Wie im „Blau-Grün-Stil“ des Malers Li Sixun (651 – 716) und seines Sohnes Li Zhaodoo (frühes 8. Jahrhundert) finden sich auch bei Hailin Wang immer wieder blaue, grüne und gelbe Farbtöne. Stark beeinflusst haben sie der im frühen 12. Jahrhundert lebende chinesische Maler Wang Ximeng (1096 – 1119) aus der Song-Dynastie und der im langen 19. Jahrhundert lebende US-amerikanische Maler James Abbott McNeill Whistler (1834 – 1903).

Hailin Wang mischt seit 2015 Öl- und Acrylfarben und nützt ihre inkompatiblen Eigenschaften, um den Eindruck zu erwecken, dass ihre Bilder ähnlich wie die chinesische Tuschemalerei aus dem Fließen der Farben entstanden sind. Sie vermeidet die exakte Darstellung einzelner Gegenstände. Details und die Vielfalt der Farben kommen durch Kontraste und eine kontrollierte Verwendung und Anordnung der Farben zur Wirkung. Ihre Malerei ist im Grunde eine zum Bild gewordene Erinnerung und eine Imagination. Sie setzt auf spezielle Farb- und Lichteffekte und inkompatible Perspektiven und verschmilzt sie mit traditionellen Maltechniken. Ihre Inspiration findet sie in in der zufälligen Wahrnehmung alltäglicher Gegebenheiten. Fleckiges Licht, verschwommene Wälder, Lichter, Gräser und Häuser sind vertraute Motive, die man jeden Tag sehen kann. In ihrer Kombination wirken sie fremd und bringen den Betrachter dazu, seine Gedanken schweifen zu lassen. Eine unrealistische Farbgebung steigert den Ausstieg aus dem Vorfindlichen und bringt das Schweifen der Gedanken auf den Höhepunkt.

Wangs Gemälde halten eine bestimmte Stimmung fest, frieren einen Anblick, einen Schauplatz oder einen Moment des Lebens ein und bringen ihn visuell auf den Punkt. Sie speichern ihn auf und geben ihn an den Betrachter weiter, etwa so, wie wenn man in die verborgene Ecken des Lebens blicken würde. Der authentische Kern dieser Gemälde ist die Vorstellung, dass Märchen wahr und ein idyllisches Leben möglich werden könnten. Dem dient auch die artifiziellen Komposition der Farben und Formen im Bildraum.

Helmut A. Müller

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